Wir sind super-stolz, denn unser neuster Artikel ist soeben im Buch "Auf dem Lande alles Dicht? Ein interdisziplinäres Lesebuch über die kreative Füllung von Leerstand" erschienen. In der Abschlusspublikation des Projektes Dehnungsfuge erzählen wir, wie Gründungslabore zu Kulturleerstandsfüllern werden können und damit Bleibeperspektiven schaffen.
Ist auf dem Lande alles dicht?
Aus dem Klappentext: “Leerstand, Landflucht, Demografischer Wandel, Demokratieferne, Kultur-Peripherie. Sind dies die einzigen Schlagwörter, die die Situation in ländlichen Räumen markieren können? Vor welchen Herausforderungen stehen Kultur, Kunst und Jugendarbeit abseits der Metropolregionen Deutschlands: Ist auf dem Lande wirklich alles dicht? In dieser Sammlung versuchen Expert*innen aus kultureller Bildung, Kunst und Wissenschaft, aber auch Protagonist*innen der kulturellen Leerstandsfüllung, Rückblicke, Analysen und Ausblicke zu geben. Das Projekt „Dehnungsfuge“ der Landesvereinigung kulturelle Kinderund Jugendbildung Sachsen-Anhalt resümiert fünf Jahre in vier Bundesländern und lud Fachleute und Engagierte der Zivilgesellschaft ein zu einer Bestandsaufnahme.” Ihr wollt das ganze Buch, dann immer her damit!
Kulturhanse als Dehnungsfuge?
Mit unserem Projekt Kulturhanse wollten wir die Perspektive auf ländlicher Leerstandsbelebung erweitern und fragten uns, inwiefern der Aufbau von Gründungslaboren und die damit verbundene Schaffung wirtschaftlicher Bleibeperspektiven ein wirksames und nachhaltiges Instrument zur Leerstandsbelebung sein kann. Für die, die Antworten suchen, drucken wir hier exklusiv unseren Text für euch ab.
Die Kulturhanse - Kulturorte gemeinsam auf dem Weg zu neuen Ufern
von Martin Arnold-Schaarschmidt und Friederike Günther
Hier wohnt nur noch die Oma
“Jedes zweite Haus in Lauscha hat nur noch ein Fenster. Das heißt, hier wohnt nur noch die Oma.” trifft Toni Köhler-Terz vom Kulturkollektiv Goetheschule die Situation in Lauscha auf den Punkt. Die idyllisch am Südhang des Thüringer Waldes gelegene kleine Stadt kämpft gegen den wirtschaftlichen Niedergang.[1] Diese Geschichte wird vielfach im ländlichen Raum erzählt: Überalterung, Leerstand, schlechte Arbeitsperspektiven, fehlende Infrastruktur und immer weniger kulturelles Leben im Ort. Wer kann, zieht weg. Insbesondere die jungen Engagierten und Kreativen gehen dorthin, wo man besser leben und mit seiner Arbeit Geld verdienen kann. Und so klaffen immer größere Löcher in kommunalen Haushalten, in denen freiwillige Aufgaben wie die Kultur verschwinden – auch in Lauscha.
Und mittendrin verfällt das denkmalgeschützte, traditionsreiche Backsteingebäude der Goetheschule. Alle sind dort zur Schule gegangen. Um es nicht dem endgültigen Verfall preiszugeben, gründet sich 2014 das Kulturkollektiv Goetheschule e.V.[2] gemäß dem Motto: ‘Wenn es nicht das gewünschte Kulturangebot gibt, muss man es sich halt selbst organisieren’ und mietete die Schule an. Sie wollen ermöglichen, dass Maler*innen, Grafiker*innen, Musiker*innen, Graffitikünstler*innen, Glasbläser*innen, Fotograf*innen, dass Jung und Alt mit- und nebeneinander Arbeiten. Dazu Toni: “Es ist der åAnspruch dieses Projektes den unsinnigen Abstand von Künstler*innen und Rezipient*innen zu minimieren, Kunst und Kultur direkt erlebbar zu machen und einen Schmelztiegel – einen ‘big melting pot’ der künstlerischen und kulturellen Energie unserer Region zu entwickeln.”
Sie erhalten rasch Anerkennung von außen, gewannen 2016 den Kulturriesen[3], einen Preis der Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur in Thüringen für herausragende Beispiele soziokultureller Praxis. Die Räume füllen sich, die Veranstaltungen auch und die freie Zeit sowieso. Die Aufgaben übersteigen allmählich das leistbare Ehrenamt und bringen Toni zur Frage, wie er mit dem Kulturkollektiv seine Brötchen verdienen könne. “Uns geht es ja nicht darum steinreich zu werden, sondern es uns einfach leisten zu können, weiterhin die Goetheschule zu beleben.” Der Grafiker beschließt seine Kulturarbeit zum Job zu machen. Und so dachten auch andere im Haus. Nur wie sollte das gehen?
Labore auf dem Land
Solche Orte und Initiativen suchen und unterstützen wir vom Plattform e.V.: Menschen, die aus eigenem Antrieb ihr Umfeld, ihre Lebensbedingungen mitgestalten wollen. Menschen, die zusammen mit anderen und für andere Konzerte, Ausstellungen, Reportagen, Straßenfeste, Kunstaktionen, Werkstätten auf die Beine stellen wollen. Und für deren Entwicklung braucht es konkrete, zugängliche Räume, wo sie einander finden, Ideen spinnen, Segel setzen, später sogar Vereine oder Unternehmen gründen können. Es sind Labore, dritte Orte[4], an denen deutlich mehr Menschen mit Ideen, Mitteln und Motivation zusammenkommen und Wandel beginnt.
Wir selbst konnten im städtischen Erfurt dazu viele Erfahrungen sammeln und engagierte Menschen stärken.
In unserem Gründungslabor-Programm Werft34 sicherten wir lokale Soziokultur im Angesicht prekärer Förderpolitik. Dazu wandelten wir mit ihnen Leerstand in langfristig günstige Arbeitsräume und Konkurrenz in kooperative Formate und Interessenvertretung. In unserem Kultur-Gründungsprogramm entwickelten die Akteure passende Geschäfts- und Lebensmodelle und erweiterten damit ihr Einkommen, ihre verfügbaren Ressourcen und ihr Selbstbewusstsein. Die ganze Geschichte erzählen wir in unserem Logbuch.[5]
Solche kreativen Labore, Werften für neue Unternehmungen und Akteure entstehen jedoch hauptsächlich in großen Städten. Dort sind Akteure viel mobiler, haben mehr gesehen, finden in den wenigen verfügbaren Räumen viel häufiger mögliche Mitstreiter*innen, Angebote und Ressourcen. In dünner besiedelten Räumen geschieht das natürlich viel seltener. Gerade wo die Not und der Leerstand am größten ist, verharren die Menschen eher vor den Überlieferungen des Scheiterns. Dort fehlt der frische Blick. Und wo sich doch Menschen zusammenfinden, um Orte und Perspektiven für sich und andere aufzubauen, fehlt es ihnen zumeist an inspirierenden Beispielen, Vorbildern, an Kompetenzen im Projektmanagement, Fundraising, in Öffentlichkeitsarbeit, Geschäfts- und Gemeinschaftsentwicklung. Wir arbeiteten über die Jahre mit mehreren Initiativen im ländlichen Raum. Auffällig war, dass gerade bei den Erfolgreichen zum Kern immer zurückgekehrte oder zugezogene Personen, als Träger*innen von neuen Perspektiven, Ideen und Knowhow gehörten. Wir glaubten, dass sich diese Herausforderungen bewältigen lassen, wenn es uns mit den Initiativen gelänge, das Werft34-Konzept auf ihre Dörfer und kleineren Städte zu übertragen und deren gähnenden Leerstand nutzbar zu machen.
Kulturhanse: Neue Perspektiven durch Gründungslabore
Also entwickelten wir im Austausch mit unseren Zielgruppen und der Schweizer Drosos Stiftung, die “Kulturhanse”, ein Programm für Bleibeperspektiven jenseits der Metropolen. Den ersten Durchgang starteten wir 2018 für Initiativen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die eigene Gründungslabore, dritte Orte, aufbauen und die lokalen Akteur*innen unterstützen wollen. Aus 23 Bewerbungen nahmen wir neun Stipendiat*innen in das Programm auf. Neben Lauscha waren das noch Organisationen aus Görlitz, Zittau, Löbau, Altenburg, Saalfeld, Zeitz, Kalbe und Güsen. Zusammen deckten sie ein breites Spektrum ab: Von der Mittelstadt bis zum Dorf, vom dynamischen Basisnetzwerk über Kreativunternehmen bis zur Kooperation aus Organisation und Stadtverwaltung, vom traditionellen Handwerk bis zur Avantgarde-Kunst. Dadurch entstand auch Potenzial für vielfältige Gründungslabore. Sie eint, dass sie Bleibe- und Ansiedlungsperspektiven für sich und möglichst viele Menschen eröffnen und so Kultur und Lebensqualität für alle steigern wollen.
Das Stipendium
Goetheschule, 1.Februar 2019, Freitag 16 Uhr: Im verschneiten Lauscha treffen so langsam alle Teilnehmende ein. Halbzeit im Stipendium. Toni ist ein bisschen aufgeregt, denn das Kulturkollektiv ist Gastgeber der fünften Werkstatt. Für das Wochenende musste allerhand gemeinsam im Verein organisiert werden: Übernachtungsmöglichkeiten, Seminarräume und -material, Verpflegung und natürlich ein Rahmenprogramm mit kollegialer Beratung und Gemeinschaft. “Ich bin stolz auf unser Team, wie gut alles in der Vorbereitung geklappt hat. Das hat uns ein Stück weiter zusammengeschweißt”, findet Toni. Nach der obligatorischen Führung durch das Haus und die Stadt werden alle selbst zu Glasbläser*innen vom Rohling zur bemalten Kugel. Natürlich rauchen auch wieder die Köpfe. An diesem Wochenende wird die Arbeit an den Laborkonzepten abgeschlossen. Expert*innen geben Einblicke und Erfahrung weiter. Für Toni ist vor allem die gegenseitige Beratung im Kulturhanse-Netzwerk wertvoll: “Hier erfahren wir, wo die anderen gerade stehen, was sie für Herausforderungen haben und versuchen uns gegenseitig zu helfen und Rat zu geben. Wir sind schon eine richtige Gemeinschaft geworden.”
Das einjährige Stipendium ist der erste Baustein des Kulturhanse-Programms. In neun mehrtägigen Werkstätten und begleitenden Praxisaufgaben werden alle teilnehmenden Organisationen in die Lage versetzt, ein eigenes Gründungslabor aufzubauen und zu betreiben. Ihre Wirkungsziele, Geschäftsmodelle, Laborprogramme, Formate, Beratungskompetenzen und Finanzierung erarbeiten wir gemeinsam. Zum Ende sollen sie die nötigen Pläne, Räume und Ressourcen haben und loslegen können. Alle Werkstätten finden bei den Teilnehmenden statt. Das ermöglicht einen breiten Einblick und kollegialen Austausch über die Ansätze, persönlichen und organisationalen Herausforderungen. Wir führen dort auch Märkte durch, auf denen die Labore und Gründungsinteressierte Produkte und Dienstleistungen anbieten und testen können.
Ein Gründungslabor aufzubauen, stellt die teilnehmenden Organisationen natürlich vor vielfältige Herausforderungen und Fragen. Deshalb begleiten wir ihre Organisationsentwicklung, Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit neben den Werkstätten. Und wir formen wir mit ihnen das Kulturhanse-Netzwerk, eine solidarische Gemeinschaft auf gleicher Reise, damit sie sich auch nach dem Stipendium noch Rat und Reflexion geben, Partner*innen in Projekten und im Wirtschaften sind. Sie sollen möglichst lange vom Stipendium profitieren. Insbesondere die geübte kollegiale Beratung, die Märkte und die Workshops zu gemeinsamen Zielen und Vorteilen zahlen darauf ein.
Der erste Durchlauf endete im September 2019. Und die Bilanz? Acht Organisationen nahmen am gesamten Stipendium teil. Drei öffneten schon im Anschluss ihr Labor. Gründer*innen bewarben sich, manche sogar aus anderen Orten. Gründen und wirtschaften wurden als reizvolle und selbstbestimmte Möglichkeiten erkannt, die so individuell wie die Personen, Ideen dahinter sind: allein oder mit anderen, mit Fördergeldern oder Verkauf, zum davon Leben oder nebenbei. Und alle Stipendiat*innen wollten den gemeinsamen Austausch fortsetzen und sich helfen. Die ersten Termine für ein Wiedersehen nach dem Stipendium standen bereits fest. Außerdem lässt sich mittlerweile in Güsen Lauschaer Glasbläserkunst erstehen und in Zittau Zeitzer Wein, erhält Görlitz Anwaltsexpertise aus Güsen und Zeitz Workshops in Altenburg.
Alle Organisationen und Personen hatten durch das Programm neue Perspektiven, Handlungsfelder und Kompetenzen erschlossen, sowie lokale und regionale Partner*innen und Unterstützer*innen gewonnen, die sich mit Geld oder Leistung einbringen wollten. Auch erfuhren sie neues Interesse und Ansehen seitens Wirtschaft, Politik und der Menschen vor Ort. Und schließlich den Mut für neue Abenteuer durch die Freunde im Kulturhanse-Netzwerk, die auf der gleichen Reise sind. „Wir sind echt stolz, wie wir uns in diesem Jahr weiterentwickelt haben. Nun bereiten wir uns auf die Eröffnung des Gründungslabors vor”, resümiert Toni stolz, “Das stößt auf großes Interesse hier in der Stadt, dadurch wurden Türen zu möglichen Geldgebern aufgestoßen. Allerdings ist noch nicht alles für die Finanzierung zusammen. Wenn wir soweit sind, steigen wir auch gern in die nächste Gründungsphase ein.”
Die Gründung
Das Kulturhanse-Programm bietet einen zweiten Baustein. Absolvent*innen des Stipendiums können sich darauf bewerben, sobald sie startbereit sind. Wer aufgenommen wird, den unterstützen wir bis zu zwei Jahre beim Aufbau und der Sicherung des neuen Gründungslabors. Entsprechend ihrer konkreten Bedarfe beraten wir sie vor Ort und aus der Ferne, öffnen überregionale Anerkennung und Unterstützung, trainieren notwendige Kompetenzen und übernehmen auch mal Workshops für ihre Gründer*innen. Die Organisationen sollen Fähigkeiten und Mittel aufbauen, Partner und Unterstützung gewinnen, die es braucht, um langfristig ihre Labore betreiben zu können. Damit werden sie zum festen Anker für Menschen mit Ideen, für Kultur und Perspektiven in ihrem Ort.
Im Oktober 2019 konnten wir die ersten drei Stipendiat*innen aufnehmen und dank eines Matchingfonds der Drosos Stiftung sogar Finanzierungslücken schließen. Weitere wollen folgen. Orte und Initiativen wie das Kulturkollektiv Goetheschule in Lauscha gibt es aber mehr als diese neun Stipendiat*innen und nicht nur in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen. Wir suchen Euch, möchten mit Euch auf die Reise gehen, bis Ihr Anderen Segel setzen helft. Ahoi, nächstes Stipendium: Für mehr Kultur und Bleibeperspektiven, für ein gutes Leben jenseits der Metropolen!
PS: Und wir suchen auch Euch, Partner*innen und Unterstützer*innen, die uns mit Tuch und Wind, mit Geld und Leistung unterstützen können, die Kulturhanse in eine nächste Runde zu schicken.
[1] Vgl. Norbert Sievers (2018): Kulturpolitik für ländliche Räume. In: Kulturelle Bildung Online,
https://www.kubi-online.de/artikel/kulturpolitik-laendliche-raeume
(letzter Zugriff am 27.02.2020).
[2] Mehr Informationen unter: https://kulturkollektiv-goetheschule.de/about/.
[3] Vgl. LAG Soziokultur Thüringen e.V. (06.12.2016): Thüringer Soziokulturförderpreis geht nach Lauscha. In:www.soziokultur.de, http://www.soziokultur.de/bsz/node/2237 (letzter Zugriff am 27.02.2020).
[4] Zur Begriffsdefinition: Ray Oldenburg (1999): The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart Community. Cambridge, MA: Da Capo Press.
Zur Verwendung des Begriffes im ländlichen Raum:Katja Drews (2018): Ländlicher Kulturtourismus – „Dritte Orte“ für (raum)produktive Transformation und partizipative Begegnung. In: Kulturelle Bildung Online, https://www.kubi-online.de/artikel/laendlicher-kulturtourismus-dritte-orte-raumproduktive-transformation-partizipative (letzter Zugriff 27.02.2020).
[5] Vgl. Plattform e.V. (2016): Logbuch- Gründer setzen Segel. Erfurt: Selbstverlag. Online verfügbar unter: http://www.werft34.de/?page_id=2524 (letzter Zugriff am 27.02.2020).